Gaza – 10.06.25

Was sind aktuell die größten Herausforderungen für Kinder in Gaza?

SOS-Kinderdorf Leiterin Reem Alreqeb berichtet über die aktuelle Situation

In folgendem Interview gibt uns Reem Alrequeb, Leiterin SOS-Kinderdorf Gaza, einen Überblick über die aktuellen Verhältnisse.

 

Wo leben Sie und die Kinder im Moment?

Wir leben derzeit in einem Vertriebenenlager in Khan Younis, Gaza. Dorthin sind wir umgezogen, nachdem wir das Dorf Rafah aufgrund des anhaltenden Konflikts verlassen hatten. Das Lager wurde als vorübergehende Notunterkunft eingerichtet.

 

Wie sieht Ihr tägliches Leben aus?

Jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben. Wir beginnen damit, den unmittelbaren Bedarf zu ermitteln, die Kinder in Sicherheit zu bringen, für ausreichend Nahrung und sauberes Wasser zu sorgen und uns um etwaige medizinische oder psychologische Notfälle zu kümmern. Einen Großteil unserer Zeit verbringen wir damit, lebenswichtige Dinge wie Gemüse oder Brot zu beschaffen, oft zu extremen Preisen, und uns um das Wohlergehen der Kinder in einem äußerst stressigen Umfeld zu kümmern. Wir leben auch in ständigem Stress, da wir die Sicherheitslage verfolgen müssen, während wir die Bombardierungen und die Nachrichten über die nahen Invasionen in das Land in unserer Nähe hören.

 

Wie viele Kinder werden von Ihnen betreut und in welchem Alter sind sie?

Wir betreuen derzeit 46 Kinder. Ihr Alter reicht von ein paar Monaten bis zu 17 Jahren. Einige wurden mit uns vertrieben, andere wurden während des Krieges an uns verwiesen, darunter auch Kinder, die alle Familienmitglieder verloren haben oder während der Evakuierung getrennt wurden.

 

Welche Art von Betreuung bieten Sie den Kindern, die Sie betreuen?

Wir bieten eine umfassende Betreuung: Unterkunft, Ernährung, so gut es mit den vorhandenen Mitteln möglich ist, psychologische Erste Hilfe und emotionale Unterstützung. Wir versuchen auch, einen Tagesablauf mit strukturierten Spiel- und Lernaktivitäten für sie zu schaffen, sogar unter einem Zelt, denn Stabilität ist für ihre emotionale Erholung unerlässlich. Unser Team besteht aus Pflegekräften, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, die mit sehr begrenzten Mitteln ihr Bestes geben. Unser Team bemüht sich auch darum, die biologischen oder erweiterten Familien dieser Kinder ausfindig zu machen und die Wiedervereinigung voranzutreiben.

 

Was sind derzeit die größten Herausforderungen für die Kinder?

Ernährungsunsicherheit und psychische Traumata sind die dringendsten Probleme. Der Mangel an nahrhaften Lebensmitteln ist alarmierend, insbesondere für jüngere Kinder. Viele zeigen Anzeichen von Verzweiflung, Albträumen, Rückzug und emotionaler Taubheit. Sie haben ihr Zuhause, ihre Familien und ihr Gefühl der Sicherheit verloren. Auch der Zugang zu medizinischer Versorgung ist nahezu unmöglich.

 

Was werden die größten Herausforderungen in der Zukunft sein?

Neben dem Überleben des Krieges wird die größte Herausforderung darin bestehen, ihr Leben wieder aufzubauen - eine Familie zu finden, eine Ausbildung zu absolvieren und sich vom Trauma zu erholen. Für diejenigen, die keine Familie haben, ist die Ungewissheit über ihre langfristige Versorgung und ihren Schutz sehr beunruhigend. Die Folgen für die psychische Gesundheit werden langwierig und komplex sein.

 

Machen Sie sich Gedanken darüber, was mit den Kindern geschehen wird, die keine Verwandten haben, die sich um sie kümmert? Was wäre das Beste für sie?

Ja, ich mache mir große Sorgen. Dies ist eine der schmerzlichsten Realitäten, mit denen wir konfrontiert sind. Einige dieser Kinder wurden außerehelich geboren, andere haben während des Krieges alle bekannten Verwandten verloren. Es gibt keine unmittelbaren Familienangehörigen, an die sie sich wenden können, und ihre Zukunft ist voller Ungewissheit.

Bei Kindern, die erweiterte Familienangehörige haben, arbeiten wir eng mit dem Ministerium für soziale Entwicklung zusammen, um die Bereitschaft der Familie zu prüfen, bevor die Wiedervereinigung stattfindet. Wir stellen sicher, dass die Umgebung sicher ist und dass die Betreuer*innen in der Lage sind, die Kinder angemessen zu versorgen. Auch nach der Wiedervereinigung begleiten wir diese Kinder weiter, um ihr Wohlergehen sicherzustellen.

 

Sind Sie derzeit in der Lage, die Grundbedürfnisse zu decken? Nahrung/Wasser/Unterkunft?

Wir tun alles, was wir können, aber der Zugang zu den Grundbedürfnissen ist nach wie vor äußerst begrenzt. Die Verfügbarkeit von Lebensmitteln ist ein großes Problem, die Märkte sind fast leer, und es ist schwierig, genügend frisches Gemüse oder wichtige Grundnahrungsmittel für die Zubereitung ausgewogener Mahlzeiten zu finden. Wir sind auf das angewiesen, was vor Ort erhältlich ist, oft in unvorhersehbaren Mengen und zu wesentlich höheren Preisen.

 

Gibt es noch etwas, das die Menschen über Ihre Situation und die Situation der Kinder, die Sie betreuen, wissen sollten?

Diese Kinder sind nicht nur Opfer, sie sind widerstandsfähig, intelligent und voller Potenzial. Aber sie können nicht allein durch ihre Widerstandsfähigkeit überleben. Sie brauchen jetzt dringend Unterstützung, Nahrung, sauberes Wasser, psychologische Betreuung und sie brauchen langfristigen Schutz und Stabilität. Wir tun alles, was wir können, aber ohne internationale Unterstützung und Aufmerksamkeit riskieren wir, eine ganze Generation an Trauma und Vernachlässigung zu verlieren. Dieser grausame Krieg muss gestoppt werden, und diese Kinder müssen alle ihre Bedürfnisse erfüllen.

 

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SOS-Kinderdorf ist seit vielen Jahren in Palästina tätig und stellt auch jetzt lebensrettende Grundversorgung und psychosoziale Unterstützung sicher.

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